Ernst Seibert: Themen, Stoffe und Motive in der Literatur für Kinder und Jugendliche.
Ernst Seibert:
Themen, Stoffe und Motive in der Literatur für Kinder und Jugendliche.
Wien: Facultas 2008.
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Vorwort
Das "Jahrhundert des Kindes" ist vorbei. Es stellt sich die Frage, wie die Vision der schwedischen Pädagogin und Schriftstellerin Ellen Key aus dem Jahr 1900 (dt. 1902) rückblickend zu beurteilen ist und wie sich die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen im Allgemeinen und insbesondere ihre literarische Sozialisation aus heutiger Sicht präsentiert. Wie immer im Kontext modernisierungstheoretischer Fragen gilt es einerseits, das tatsächlich Neue vom unkritisch Tradierten zu unterscheiden, andrerseits aber auch, das zeitlos Gleihbleibende in seiner Gültigkeit im Auge zu behalten.
Eines der grundlegenden Merkmale in der Entwicklung ästhetischer Erfahrungen auch und nicht zuletzt in frühen Lebensabschnitten ist das Bedürfnis, ein Werk - sei es Literatur, Musik oder bildende Kunst - in allen Details zu erkennen und in einer erneuten Begegnung anhnad dieser spezifischen Details wiederzuerkennen. Vor allem in den so genannten reproduzierenden Künsten - im Schauspiel, in der Musik - entsteht die Spannung beim Befassen mit einem Kunstwerk dadruch, dass das bereits Bekannte in der interpretierenden Wiedergabe wiederentdeckt, gleichzeitig aber auch in einer neuen Deutung wahrgenommen wird.
Wir kennen jenes urkindliche Bedürfnis, ein einmal erzählt bekommenes Märchen immer wieder hören zu wollen, und zwar im selben Wortlaut wie beim ersten Mal - gegen kleinste Abweichungen erfolgt meist unwilliges Auflehnen.
Eine Variante dieses "Genauso-Wieder" ist das Déjà-vu-Erlebnis des Erwachsenen, wenn er nach vielen Jahren ein Bilderbuch aus frühesten Kindertagen in der Hand hält. Unter dem Eindruck dieses Phänomens, das manche gar zu passionierten Kinderbuchsammlern werden lässt, drängt sich die Vermutung auf, dass dieses kindliche Bedürfnis nach dem Wiedererstehen des Gleichen dem Bedrüfnis eines kunstinteressierten Erwachsenen im Wesentlichen ähnelt.
Kinderliteratur ist in dieser bestimmten und bestimmenden Weise die erste Literatur, an der alle folgende gemessen wird. Schon allein deshalb erscheint es unangemessen, den gängigen Begriff "Kinder- und Jugendliteratur" pauschal zu reproduzieren; es soll in der Folge nun gezielt bzw. differenziert verwendet werden. Bereits als ein erstes Merkmal der Unterscheidung zwischen Kinder- (einerseits) und Jugendliteratur (andrerseits) sollen die sprachliche Präzision und ihre Wiederholbarkeit genannt werden, die besonders der Kinderlyrik eigen sind. Das Horazische prodesse et delectare - oder auch Sammlung und Zerstreuung, die Konzentration auf das Einzelne, Unverwechselbare der bildlichen und sprachlichen Repräsentation der außersprachlichen Wirklichkeit und gleichzeitig die Ablenkung von ihr sind bereits in dieser ersten Literatur vorhanden.
Wenn mit bewusster Betonung der Konjunktion von Kinder- und Jugendliteratur die Rede ist, so in dem Sinne, dass Kinder, wie sie uns heute in einer globalisierten und gleichzeitig infantilisierten Welt begegenen, durchaus schon jugendliche und Jugendliche nicht selten noch kindliche Attitüden an den Tag legen, dass also die herkömmlichen Altersgrenzen in Frage zu stellen sind. Insofern erscheint es in Bezug auf dieses Genre nicht sinnvoll, zwischen E (Ernst) und U (Unterhaltung) wertend zu unterscheiden. Was der den Heranwachsenden zugedachten Literatur hinsichtlich ihrer Literaizität wohl am abträglichsten ist, ist die pädagogisch-rationale Funktionalisierung, ihre Bestimmung als Mittel zum Zweck.
Schließlich erscheint es problematisch, die den Heranwachsenden zugedachte Literatur als Subsystem eines allgemeinen Literatursystems anzusehen. Vielmehr stellt sich die Aufgabe, Literatur nicht als eine für Heranwachsende, sondern als die der Heranwachsenden zu verstehen und damit als Genre, das wie jedes andere im Kontext der Literatur für sich einen implizit und explizit literarischen Diskurs entwickelt und diesen im Sinne genrespezifischer Kriterien immer wieder neu erfindet und definiert. Wenn in der Folge die systemtheoretische Terminologie fallweise dennoch in Anspruch genommen wird, dann weniger in der Absicht ihrer Unterstützung, sondern mit dem Ziel einer Aufhebung der Grenzen zwischen allgemeiner Literatur und der Literatur für Heranwachsende. Trotz und mit der Präposition "für" soll diese Literatur als ein Genre betrachtet werden, das der allgemeinen Literatur nicht nur zunehmend näher steht, sondern dort, wo sie Literarizität aufweist, in die allgemeine Literatur einfließt bzw. in sie übergeht. Im Gegensatz zu früheren Auffassungen, denen zufolge die Literatur für Heranwachsenden die Aufgabe hatte, eine Vorstufe für die allgemeine Literatur zu bilden, ist sie heute als Genre zu sehen. Die Sichtweise soll dazu beitragen, Kinder und Jugendliche jeweils in ihrer Zeit - und vor allem heute - besser zu verstehen, bzw. soll sie dem Verständnis zwischen den Generationen förderlich sein.
Wenn die Literaturwissenschaft immer noch ein Elfenbeinturm sein sollte, dann ist die Befassung mit den Literatursparten der Heranwachsenden eine von vielen Möglichkeiten, aus der Abgeschlossenheit des Turmes einen Ausweg zu finden. In diesem Sinne ist der Blickwechsel zwischen Literatur und außerliterarischer Wirklichkeit von entscheidender Bedeutung, liegt doch hierin der Anspruch, sich in angewandter Rezeptionsästhetik mit dem Verhältnis zwischen Literaturschaffenden und Lesenden sowie mit dem Lesen als Verstehensprozess zu befassen, der die Generationen nicht trennt, sondern zu einer gegenseitigen differenzierteren Wahrnehmung beiträgt.