Rückblick auf die heurige Herbsttagung

14.11.2022

„Show me the World – Sachbücher in und aus Österreich“

Die Jahrestagung 2022 der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung fand – nicht zuletzt aufgrund der thematischen Nähe – im unmittelbaren Anschluss an die internationale Tagung „Marie Neurath and Isotype Picturebooks“ (19. und 20. Oktober 2022, Wiener Wirtschaftsmuseum) am 21. Oktober 2022 ebendort statt und widmete sich aktuellen und historischen Sachbüchern für Kinder und Jugendliche aus dem deutschsprachigen Bereich. Zum ersten Mal in der Geschichte der ÖG-KJLF wurde die Jahrestagung hybrid abgehalten, was auch Interessent*innen aus dem Ausland die Möglichkeit bot, sich zuhörend und mitdiskutierend zu beteiligen.

Dass das Sachbuch nicht nur eine lange Geschichte hat, sondern auch in unterschiedlichsten Ausprägungen vorliegt, zeigten die Vorträge, die nicht nur zeitlich, sondern auch thematisch einen weiten Bogen spannten. Die These, dass das Sachbuch trotz der großen Konkurrenz des Internets, Sachbücher, die in großer Fülle produziert werden, auch immer noch rege – nicht nur von Kindern – gerne rezipiert werden, lässt sich hiermit bestätigen.

Die Tagung startete mit einem Rückblick von Susanne Blumesberger unter dem Titel „Einblicke in unbekannte Welten. Marie Neuraths Sachbücher für Kinder“ auf die vorherigen beiden Tage, an denen sich zahlreiche internationale Forschende intensiv mit Marie Neurath beschäftigten. Marie Neurath, geb. Reidemeister (1898- 1986) studierte Mathematik und Physik an mehreren deutschen Universitäten und an der Kunstakademie in Wien. Sie arbeitete ab 1925 als Assistentin von Otto Neurath im Wirtschafts- und Gesellschaftsmuseum Wien, entwickelte mit ihm die Isotypie (Bildstatistik), emigrierte 1934 nach Holland, wo sie bei der International Foundation for Visual Education tätig war. Später lebte sie in Oxford und gründete mit Otto Neurath, den sie 1941 geheiratet hatte, das Isotype-Institut. Nach Otto Neuraths Tod führte sie das Institut weiter und schuf zahlreiche Kinderbücher, in denen sie die Methode der Bildstatistik für ihr Konzept einer visuellen Erziehung produktiv anwandte. Unter anderem stellte sie ihre Bücher in Schulen in Nigeria vor. Dass ihre Art zu visualisieren auch spätere Autor*innen beeinflusste und auch heute noch Forschung auf der Basis der Bildstatistik basierte, zeigte die Tagung über diese ungewöhnliche Frau.

Joseph Kebe-Nguema, Doktorand an der Sorbonne Université und an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen referierte über „Deutschkärntner als Befreiungskämpfer und Antislawismus im Jugendsachbuch Kärnten: Für Jugend und Volk zusammengestellt (1935) von Else Frobenius“. Er griff damit das Thema „Auslandsdeutschtum“ auf, das ab der Mitte der 1920er Jahre in der Reihe „Der Deutsche im Auslande“, vom Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht herausgegeben, im Fokus stand. Dabei standen vor allem deutsche Minderheiten im Vordergrund. Das im Vortragstitel erwähnte Jugendsachbuch wurde erstmals 1929 publiziert, 1935 wurde es erneut veröffentlicht und ideologisch angepasst. Rassistische Aspekte wurden betont und der Nationalsozialismus in Kärnten thematisiert. Kebe-Nguema beschäftigte sich vor allem mit Race und Klasse und deren zugewiesenen Rollen in diesem Werk. Dieses Beispiel zeigt, dass das Sachbuch trotz aller Sachlichkeit nie wertfrei zu sehen ist, sondern in sich stets Ansichten und Wertvorstellungen birgt.

Orel Beilinson, Doktorand an der Yale University, sprach über “Teaching Adulthood Youth, 1848-1968: Austrian Textual Models in a European Context”. Sein Vortrag nahm Publikationen in Österreich von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in den Blick. Darunter sind sowohl Predigten als auch Lehrbücher, die die Grundannahme teilen: Man wächst nicht einfach ins Erwachsenenalter hinein. Diese Werke über die Konstruktion der Adoleszenz und des jungen Erwachsenseins spiegelten auch wechselnde Vorstellungen darüber, was genau über das Erwachsensein gelehrt werden sollte. In seinem Vortrag verwob Beilinson drei Aspekte, die Vorbereitung auf das Erwachsensein von 1848 bis 1968 in Bezug auf Faktoren wie die Ausweitung der Massenschulbildung, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und der Industrialisierung. Außerdem wurde thematisiert, welche gesellschaftlichen Akteure Autorität über den Übergang zum Erwachsensein beanspruchten und welche textlichen Modelle sie einsetzten, um junge Erwachsene auf das Erwachsensein vorzubereiten.

Ilona Stütz griff in ihrem Vortrag „Wie im Bilderbuch - Bilderbuchkörper” - Repräsentation von Körpern in erzählenden Sachkinder- und Jugendbilderbüchern“ ihr Diplomarbeitsthema, eine exemplarische Analyse aktueller österreichischer Sachbücher für Kinder und Jugendliche aus dem Achse Verlag und Leykam Verlag entlang eines intersektionalen Verständnisses von Diversität auf. Anhand von exemplarischen Analysen aktueller Kinder- und Jugendbücher aus Österreich, die zwischen 2020 und 2022 erschienen sind und sich explizit dem Thema „Körper“ widmen, ging sie der Frage nach, wie dieses Thema in Kinder- und Jugendbilderbüchern repräsentiert wird. Im Mittelpunkt stand die Frage, inwiefern gesellschaftliche Normen Auswirkungen auf das Darstellbare haben und wie sich Autor*innen, Illustrator*innen, aber auch Verlage diesen Erwartungen entgegenstellen oder auch beugen (müssen).

Sonja Schreiner, Universität Wien und Veterinärmedizinische Universität Wien, richtete ihren Blick mit ihrem Vortrag „Ab in die Natur mit dem Bestimmungsbuch! Die Ravensburger-Reihen ‚Kennst du diese...?‘ und ‚Wir entdecken und bestimmen...‘“ auf die späten 1970er- und frühen 1980er-Jahre. Das Spektrum erstreckte sich von Dinosauriern über Gesteine, Wolkenformationen, Wild- und Haustiere bis zu Tieren im Zoo und Leben in der Stadt. Der Verlag Ravensburger (Otto Maier Verlag) zeichnete für die deutschsprachigen Ausgaben in zwei identisch aufgebauten Reihen („ Kennst du diese... „ und „Wir entdecken und bestimmen...“) verantwortlich. Die Werke waren für Kinder ab 8 Jahren konzipiert und mit ansprechenden Illustrationen und Kurzbeschreibungen versehen. Der Vortrag stellte damit eine heute in den Hintergrund getretene Buchgattung vor und setzte sie in Bezug zu entsprechenden Werken für Erwachsene, für die diese Reihen ebenfalls interessant sind. 

Carla Elizabeth Basset, sprach über ihre Masterarbeit an der Universität Innsbruck, Studienrichtung Translationswissenschaften, die sich mit translationswissenschaftlichen Herausforderungen bei der Übersetzung ausgewählter Medien zur medizinisch-terminologischen Fachwissensvermittlung bei Kindern beschäftigt. Im Fokus dabei stehen vor allem Schwierigkeiten bei der Übersetzung von Medien für Kinder mit dem Schwerpunkt auf medizinischer Terminologie. Jedes Medium weist individuelle Zugänge der Wissensvermittlung auf, trotzdem werden viele Parallelen sichtbar. Ein intermedialer und interdisziplinärer Ansatz trägt dazu bei, das Medium effizienter und genauer zu übersetzen.

Karoline Thaidigsmann, Dozentin am Slawischen Institut der Universität Heidelberg, sprach über das Thema „Vom Märtyrer- zum Staatsbürgertum: Patriotismus in der polnischen Kinder- und Crossoverliteratur des 21. Jahrhunderts“. 1900 veröffentlichte Władysław Bełza seinen „Katechismus des polnischen Kindes", ein Gedicht, das Generationen von polnischen Kindern in der Schule gelesen und auswendig gelernt haben. Dieses Gedicht wurde zum Paradigma für die Beziehung zwischen Individuum und Nation und eine Vorlage für patriotisches Verhalten. Thaidigsmann fokussierte sich in ihrem Vortrag auf jüngere Kinder- und Crossoverliteratur, die versuchen, Bełzas Katechismus – mit implizitem oder explizitem Bezug zum Original – zu unterminieren und in Abgrenzung dazu ein neues, kindgerechtes Verständnis von Patriotismus für das 21. Jahrhundert zu entwerfen und zu vermitteln. Anhand mehrerer aktueller Beispiele stellte sie die Frage, was moderne Crossover- und Kinderliteratur bei der Überwindung eines auf (Selbst-)Opfer fokussierenden traditionellen Patriotismus leisten kann und inwiefern Versuche, die Tradition zu dekonstruieren mitunter unbeabsichtigt zu ihrer Rekonstitution beitragen.

Abschließend trug Dariya Manova, Universität Wien, zum Thema „Spannender als jeder Abenteuer-Roman, aufschlußreicher als jedes Reisebuch, so buntfarbig wie nur das Leben selbst." – Zur Geschichte des deutschsprachigen Sachbuchs“ vor. „Sachbücher“, die in den 20er und 30er Jahren noch unter heterogenen Bezeichnungen wie „Wirtschaftsbuch“ oder „Tatsachen-Roman“ auf den Markt kursierten, verzeichnen nicht nur eine neue Phase in der Geschichte der populären Wissensvermittlung, sondern waren für die damalige Literaturproduktion prägend, so Manova. Diese Werke waren durch ihre explizite Tatsachenbezogenheit modern, zugleich aber auch ein sicheres Geschäft in Zeiten von zunehmender politischer Zensur. Verleger wie Ernst Rowohlt und Wilhelm Goldmann erkannten dies und investierten in Autoren mit journalistischer und wissenschaftlicher Laufbahnen. Zahlreiche dieser Sachbücher weisen eine große Nähe zu Abenteuerroman, Biographie und Reportage auf, was sie zu einem herausragenden Beispiel der Crossover-Literatur macht.

Einen krönenden Abschluss erfuhr diese Veranstaltung durch das in Kooperation mit dem „Vienna Anthropocene Network“ durchgeführte Werkstattgespräch „Das Anthropozän, für Kinder erklärt“, das Dariya Manova und Carmen Sippl, Hochschulprofessorin für Kultursemiotik und Mehrsprachigkeit an der PH Niederösterreich, mit der Autorin Melanie Laibl führte. Laibl, Übersetzerin und Kommunikationswissenschaftlerin, zeichnet sich in ihren Büchern für Kinder durch Originalität, hintergründigen Ideen und Sprachwitz aus. In ihren Sachbilderbüchern verbindet sie sorgsam recherchiertes Fachwissen mit sprachlichem Einfallsreichtum. Es war ein Genuss, diesem interessanten Gespräch mit der vielfach ausgezeichneten Autorin zuzuhören.

 

Ein Bericht von Susanne Blumesberger

Einführung in die Tagung Susanne Blumesberger

Einführung in die Tagung Susanne Reichl

Susanne Blumesberger und Susanne Reichl

Joseph Kebe-Nguema und Susanne Reichl

Orel Beilinson und Susanne Reichl

Ilona Stütz und Susanne Blumesberger

Susanne Blumesberger, Susanne Reichl und Sonja Schreiner

Carla Basset

Susanne Blumesberger und Karoline Thaidigsmann

Werkstattgespräch: Dariya Manova, Carmen Sippl und Melanie Laibl

Werkstattgespräch: Dariya Manova, Carmen Sippl und Melanie Laibl