Rückblick auf die Herbsttagung der ÖG-KJLF

16.12.2024

Unter dem Titel „Brav sein ist schwer! Grenzüberschreitungen im Leben und Werk Marlen Haushofers“ bringt die Herbsttagung der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung vom 21. bis 22. November 2024 literaturwissenschaftliche Beiträge aus u.a. der Biografieforschung, der Queer-Narratology, dem Ecocriticism und der Medientheorie zusammen, die sich mit der Literatur von Marlen Haushofer auseinandersetzen. Zwischen den Vorträgen ergibt sich ein dichtes Netz aus Beziehungen, die das Leben mit dem Werk, die Kinder- und Jugendliteratur mit der Allgemeinliteratur und nicht zuletzt Marlen Haushofer mit der Gegenwart verbinden. 

Für den Vorstand der Gesellschaft eröffnen Dariya Manova und Stefan Krammer (Wien) die diesjährige Herbsttagung der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung. Manova weist auf die bei Claasen (Ullstein) erschienene erste Werkausgabe hin (Nov. 2023), in der das kinder- und jugendliterarische Werk nicht mit herausgegeben wurde. Darin setze sich die Verengung der Rezeption auf die Allgemeinliteratur fort. Die wertende, marginalisierende Differenz zwischen Allgemeinliteratur und KJL habe Haushofer selbst aufrechterhalten, indem sie in ihren Briefen die Leichtigkeit des Schreibprozesses in ein reziprokes Verhältnis zur ästhetischen und existenziellen Befriedigung stellte. Ausgehend von dieser in Biografie und Verlagswesen bestehenden Trennung gehe es der Tagung nun um ein produktives Zusammenlesen der Kinder- und Jugendliteratur und der Allgemeinliteratur Haushofers. Krammer knüpft mit dem Begriff der topografischen Border Studies an. Darin würden Grenzen als ein sozial und historisch gewachsenes Ordnungsprinzip untersucht. Eine interdisziplinäre Übertragung ermögliche den Blick auf literarische Formate der Grenzüberschreitung. Ausgehend von Haushofers Werk ergebe sich ein besseres Verständnis von Grenzziehungen als Prozessen kontinuierlicher Neuaushandlung. Die Beiträge der Tagung würden sich entsprechend mit verschiedenen Dimensionen der Grenzüberschreitung im Werk Haushofers befassen: zwischen Schreiben und Leben, Populärkultur und Kanon, Mensch und Tier, Generationen, Geschlechtern und schließlich dem individuellen Freiheitsstreben und einem sozialen Normapparat. 

Den Auftakt zur Tagung gibt Daniela Strigl (Wien). Die Haushofer-Biografin (Strigl, 2007) behandelt in ihrem Vortrag Motivkonstanten im Œuvre Marlen Haushofers an der Grenze von fiktionalem und autobiografischem Schreiben. Das enge Verhältnis zwischen Biografie und Literatur Haushofers erläutert Strigl an Die Vergissmeinnichtquelle (1956) und Für eine vergessene Zwillingsschwester. Nachruf zu Lebzeiten (1969) als gespiegelten Selbstporträts der Autorin. Der Roman Himmel, der nirgendwo endet (1966), von der Autorin selbst als ein im Kern autobiografischer Text bezeichnet, befasse sich schließlich in zentraler Weise mit dem Problemkreis des Sich-Erinnerns. Ausgehend von solchen biografischen Elementen im allgemeinliterarischen Werk ließen sich dann Fiktionalisierungsstrategien und Überblendungsverfahren in den kinder- und jugendliterarischen Texten der Autorin detaillierter beschreiben. Umgekehrt bilde das kinder- und jugendliterarische Schreiben also einen integrierenden Bestandteil des Gesamtwerks der Autorin. 

Einen von den Age-Studies informierten Blick auf die Konstruktion des Alters der kindlichen Hauptfiguren bei Haushofer nehmen Heidi Lexe und Kathrin Wexberg (Wien) in ihrem Vortrag ein. Die Referentinnen setzen sich mit dem 1972 posthum veröffentlichten Märchen Das Nixenkind, dem Kindheitsroman Himmel, der nirgendwo endet sowie dem Kinderroman Brav sein ist schwer! (1965) auseinander. In Das Nixenkind sei der Entwicklungsmotor der Hauptfigur nicht die Kategorie Zeit, sondern ein mit Raumsemantiken verzahntes Mutter-Tochter-Verhältnis. Diese Darstellungsweise eines relationalen ‚Doing Age‘ (Benner & Ulmann, 2019) finde sich auch in Himmel, der nirgendwo endet und Brav sein ist schwer! wieder. In Figurationen des ‚experience age‘ (Benner & Ulmann, 2019) werde die Produktion von Alter als kulturelle Praxis reflektiert. Sowohl in dem von der Einbildungskraft der kindlichen Protagonisten erfassten Raum sowie über die kindliche Rezeption mündlicher Erzählungen und der anschließenden Lesesozialisation werde Alter als normative Wiederholungspraxis transparent. Quer hierzu verlaufen realhistorische Debatten um ‚Schmutz- und Schundliteratur‘ im Österreich der 1950er und 1960er Jahre sowie die innerdiegetische Reflexion von über das Erzählen vermittelten Geschlechter- und Rollenbildern.

Szilvia Gellai (Wien) befasst sich mit Grenzüberschreitungen von Populärkultur und Kanon. Sie untersucht Übertragungswege des Glaskuppelmotivs von Science-Fiction-Magazinen der 50er und 60er Jahre in Haushofers Roman Die Wand (1963). Haushofers Rezeption von Science-Fiction lasse sich nicht nur biografisch belegen. Darüber hinaus sei eine produktive Umschreibung konkreter Vorbilder nachverfolgbar. Einen solchen Prätext zu Die Wand erkennt Gellai in Fred MacIsaacs Am Anfang war nur Chaos (1955) (OV: The Hothouse World). Mit Aby Warburgs Modell der Bilderfahrzeuge analysiert die Referentin Haushofers Rezeption als eine produktive Überschreibung der Science-Fiction-Topologie. Anders als die Mensch-Natur-Hierarchie unter den architektonischen Glaskuppeln der SF erzeuge die Einsperrung in Die Wand eine Dynamisierung der anthropologischen Differenz und einen Gegenentwurf zum Phallozentrismus der Science-Fiction-Magazinkultur der 50er und 60er Jahre. 

Dieter Merlin (Klagenfurt) präsentiert eine inter- und transmediale Analyse der Literaturverfilmungen Die Wand (2012) und Wir töten Stella (2017). Zentrale Analysewerkzeuge Merlins sind das Konzept filmischer Empathie bei Wulff (2003) sowie das ‚Continuity Editing‘ (Brinckmann, 2011) als filmische Erzähltechniken. Mit im Fokus steht der didaktische Aspekt der Filmanalyse im Unterrichts- und Lehrkontext. Anhand des speziesübergreifenden Verhältnisses zwischen der Protagonistin und dem Hund Luchs in Die Wandbeschreibt Merlin das filmische Verfahren der Empathiesteuerung durch Sequenzierung. Im intermedialen Vergleich stellt er der ersten Begegnung von Hund und Mensch mit der unsichtbaren Wand in Die Wand die sichtbaren, aber auch als Metapher fungierenden Wände und Gitter in der Verfilmung von Wir töten Stella gegenüber. 

Den Abschluss des ersten Tages der ÖG-KJL Herbsttagung macht Sarah Maaß (Köln) mit einem Vortrag zu Differenzierungsmöglichkeiten von kindheits- und kinderliterarischem Erzählen bei Marlen Haushofer. Maaß untersucht inszenierte Kindheit im Roman Himmel, der nirgendwo endet und im Kinderroman Brav sein ist schwer!. Gehe es in Himmel, der nirgendwo endetals Kindheitsliteratur (Seibert, 2008) um literarische Zugriffsversuche auf den fremden Weltbezug des Kindes, so würden in Brav sein ist schwer! Enkulturationsprozesse in der Übernahme von Normen und Werten der Erwachsenenwelt durch Kinder thematisiert. Als eine ‚Vorzeitlichkeit des Subjektes‘ beschreibt Maaß die Darstellung kindlicher Erfahrung in Himmel, der nirgendwo endet mit Haraways Konzept der ‚natureculture‘ (Haraway, 2003) und den Modellen von Affekt und Affizierung bei Gilles Deleuze. An die fließenden Übergänge von natürlichem und kulturellem Raum in der ‚vitalistischen Existenz‘ der Protagonistin lasse sich mit Haraway eine ökokritische Perspektive anschließen. Dem stehe der Körper als Medium der Perspektive in Brav sein ist schwer! gegenüber. Das Kind-Ich ist hier im Austausch mit dem stabilisierten Eltern-Ich und Erwachsenen-Ich (Berne, 1961). Einer kindheitsliterarischen Poetologie des alteritären Weltbezugs in Himmel, der nirgendwo endet stehe der zeit- und diskursgeschichtlich enger gebundene didaktische und pädagogische Zugriff auf das Kind in Brav sein ist schwer! gegenüber.

Am Morgen des zweiten Tages beginnt Franziska Przechatzky (Wien) mit einem Vortrag zum Coming-Out-Narrativ in Haushofers erstem Roman Eine Handvoll Leben (1955). Der Vortrag knüpft an Überlegungen aus ihrem Dissertationsprojekt zu Konfigurationen weiblicher Homosexualität in der Literatur der 1950er und 1960er Jahren an. In Eine Handvoll Leben unterlaufe ein ‚Brüchiges-Inneres Coming-Out‘ der Protagonistin das konventionelle Konzept der ‚Coming-Out Story‘ nach Gutenberg (2010). In einer aus Rückblenden zusammengesetzten Erzählung werde Queerness als stetig neu produzierte Performanz bei Haushofer lesbar. Przechatzky erläutert davon ausgehend das Erzählverfahren eines kontinuierlich erfolgenden Coming-Outs der Protagonistin, in dem homo- und heterosexuelles Begehren auf Figurenebene durch ein widerstrebendes Freiheitsbegehren uneindeutig gehalten werde.

Denise Reimann (Berlin) setzt sich in ihrem Vortrag mit der Frage nach Sorge- und Fürsorgeverhältnissen zwischen Mensch und Katze in Haushofers Romanen Die Wand und Bartls Abenteuer (1964) auseinander. Im Sinne des Aufrufs „Make Kin Not Babies!“ (Haraway, 2016) antizipieren Haushofers Romane nach Reimann eine Ethik speziesübergreifender Fürsorge. In Die Wand verkehre sich die Sorge der Protagonistin um die Katze in ein Sorgeverhältnis der Katze für den Menschen. Von einer Projektionsfigur avanciere die Katze zu einer Gefährtin mit geteiltem Erfahrungshorizont. Dem misogynen Topos der ‚Cat-Lady‘ stelle der Roman ein reziprokes Verhältnis zwischen den Arten entgegen. In Anknüpfung an die Tradition der Autozoografie löse die Fokalisierung der Weltsicht des Katers Bartl in Bartls Abenteuer dann die Möglichkeit einer Mensch-Katzen-Symbiose perspektivisch ein.

An die Fokussierung des Mensch-Katzen-Verhältnisses in Haushofers Bartls Abenteuer schließt Andreas Hudelist (Graz) mit einer Post-Anthropozentrismus-Lektüre des Romans an. Die Überlegungen sind in Zusammenarbeit mit Nicola Mitterer (Klagenfurt) entstanden, die leider nicht vor Ort sein kann. Eine post-anthropozentrische Schreibweise Haushofers möchte Hudelist abschließend von der multidirektionalen Denkfigur des Rhizoms bei Deleuze & Guattari (1992) und Haraways ‚Chthuluzän‘ (2016) aus einfangen. Formal und inhaltlich lasse sich verfolgen, wie der Mensch in Bartls Abenteuer zu einer Randfigur werde, während die Katze Bartl als verknotete Figur mit ihrer Umwelt verbunden erscheine. Haushofer greife damit auf das Theoriegebäude des Post-Anthropozentrismus vor und deute eine literarische Neuzentrierung von Erfahrung als ‚tentakuläres‘ (Haraway, 2016) oder affektisches In-Beziehung-Sein mit der Welt an.

 

Konferenzübersicht

Stefan Krammer, Dariya Manova (Wien): Begrüßung 
Daniela Strigl (Wien): „Nie will ich grüne Westen stricken“. Autobiographische Fährten in Haushofers Kinder- und Kindheitsliteratur 
Heidi Lexe/Kathrin Wexberg (Wien): „Ausgeschlossen und allein.“ Räume der (verlorenen) Kindheit im Werk von Marlen Haushofer 
Szilvia Gellai (Wien): Reise hinter Die Wand. Bilderfahrzeuge der Science Fiction 
Dieter Merlin (Klagenfurt): Annäherungen an das Unaussprechliche. Die Haushofer-Verfilmungen Die Wand und Wir töten Stella 
Sarah Maaß (Köln): Unsichtbare Wände. Kindheit und natureculture im kindheits- und kinderliterarischen Erzählen von Marlen Haushofer 
Franziska Przechatzky (Wien): „Anziehend und abstoßend zugleich“ – Kindheit, Devianz und Coming-out in Marlen Haushofers Eine Handvoll Leben 
Denise Reimann (Berlin): Kinder, Katzen, Klima. Grenzüberschreitende Sorgeverhältnisse bei Marlen Haushofer 
Andreas Hudelist (Graz), Nicola Mitterer (Klagenfurt): Post-Anthropozentrismus avant la lettre? Erzählerische Grenzgänge zwischen Mensch und Tier in Marlen Haushofers Romanen für Kinder 
 

Literatur

  • Benner, Julia & Ullmann, Anika (2019): Doing Age. Von der Relevanz der Age Studies für die Kinder- und Jugendliteraturforschung. In: Jahrbuch der Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung 2019, S. 145-159.
  • Brinckmann, Christine N. (2011): Die poetische Verkettung der Bilder. In: montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation, 20 (2011/1), S. 29–4.
  • Berne, Eric (1961): Transactional Analysis in Psychotherapy: A Systematic Individual and Social Psychiatry. New York: Grove Press.
  • Deleuze, Gilles & Guattari, Félix (1992): Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Übers. v. Gabriele Ricke u. Ronald Vouillé. Berlin: Merve.
  • Gutenberg, Andrea (2010): Coming-out Story. In: Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London: Routledge.
  • Haraway, Donna J. (2003): The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness. Chicago: Prickly Paradigm.
  • Haraway, Donna J. (2016): Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene. Durham: Duke University Press.
  • Seibert, Ernst (2008): Themen, Stoffe und Motive in der Literatur für Kinder und Jugendliche. Wien: Facultas.
  • Strigl, Daniela (2007): „Wahrscheinlich bin ich verrückt ...“. Marlen Haushofer – die Biographie. Berlin: List.
  • Wulff, Hans Jürgen (2003): Empathie als Dimension des Filmverstehens. Ein Thesenpapier. In: montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 12 (2003/1), S. 136-161.

 

Ein Bericht von Peter Immanuel Eich (Studien Assistent von Dariya Manova)

Tagungseröffnung durch Dariya Manova und Stefan Krammer (v.l.n.r.)

Publikum

Daniela Strigl und Stefan Krammer (v.l.n.r.)

Heidi Lexe und Kathrin Wexberg (v.l.n.r.)

Szilvia Gellai

Andreas Hudelist