KINDERLITERARISCHES KOLLOQUIUM

19.12.2022

DANKBARE RÜCKSCHAU & HOFFNUNGSFROHER AUSBLICK

Ein Bericht von Sonja Schreiner

Am 1. Dezember 2022 fand über Webex das schon traditionelle slawistische kinderliterarische Kolloquium statt, ein Nachmittag (14:00-18:00 Uhr) voller Impulse zum – leider – hochaktuellen Thema „Krieg und Frieden in den slavischen Kinderliteraturen“. Dazu eingeladen haben Karoline Thaidigsmann (Universität Heidelberg), Eva Kowollik (Universität Halle) und Nina Frieß (ZOIS. Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien Berlin).

Auf eine „Einstiegsrunde – Was gibt es Neues?“, in der eine Vorstellungsrunde das Kennenlernen neuer Teilnehmer*innen des ständig wachsenden Interessent*innenkreises ermöglichte und Informationen über wichtige Neuerscheinungen, spannende Veranstaltungen und zukunftsträchtige Projekte ausgetauscht wurden, folgten Impulsreferate zu „Krieg und Frieden in den süd-, west- und ostslavischen Kinderliteraturen“ mit engagierter Diskussion: zum einen des Referats, zum anderen der vorbereitenden Lektüre, die vor dem Kolloquium an alle Interessierten verschickt worden war. (Es wurden jeweils signifikante Auszüge aus einigen der präsentierten Texte – aus verschiedenen Genres – zur Verfügung gestellt, desgleichen ausgewählte aktuelle Sekundärliteratur. Die Präsentationen und eine ebenso umfang- wie hilfreiche Linksammlung zu Neuerscheinungen, Initiativen und Veranstaltungen, die sich aus den Diskussionen und dem angeregten Chat während der Veranstaltung ergab, wurden nach dem Kolloquium allen Teilnehmer*innen zur Verfügung gestellt.)

Eva Kowollik referierte über „Die jugoslawischen Zerfallskriege. Beispiele aus Kroatien und Bosnien und Herzegowina“ und setzte bei Branko Ćopićs Orlovi rano lete (1957; Die Adler fliegen früh) ein, einem Buch, in dem Kinder als Kuriere und Helfer der Partisanen im Kampf gegen die Ustaša stehen. Danach stellte sie die 1991–1995 erschienene Sonderreihe Ratna vjeverica (Kriegseichhörnchen) in der beliebten Reihe Vjeverica (Eichhörnchen) im Zagreber Verlag Mladost vor, weiters Zlata Filipovićs Tagebuch Ich bin ein Mädchen aus Sarajevo, Muhidin Šarićs Pođi kući (Geh nach Hause) und den Roman Resan som började med ett slut (Die Reise, die mit einem Ende begann) von Zulmir Bečević. Ans Ende ihrer berührenden Betrachtungen stellte Eva Kowollik Zuhause. Eine Geschichte über das Verlieren und Finden von Heimat von Biljana S. Crvenkovska und Vane Kosturanov.  

Tijana Tropin (Institut für Literatur und Kunst, Belgrad) gab Einblicke in „Kriege der 1990er in der serbischen Kinderliteratur“. Neben Schweigen und Vermeidung des schwierigen Themas, manifestiert in ideologie- und politikfreier Gegenwartsliteratur, existiert von Autorinnen wie Mirjana Stefanović engagierte Antikriegsliteratur für Erwachsene und neutrale KJL. Jasminka Petrović hat mit Leto kada sam naučila da letim (2015; Der Sommer, als ich fliegen lernte) gleichsam einen Tabubruch begangen: Protagonistin ist eine Zwölfjährige, tematisiert wird die Aufarbeitung der Jugoslawienkriege am Schicksal einer multiethnischen Familie. (Eine deutsche Übersetzung wird 2023 erscheinen.) Weiters zeigte Tijana Tropin an Vesna Aleksićs Romanen verschiedene literarische Aufarbeitungen der NATO-Bombardierung, die sich aufgrund der zunehmenden zeitlichen Distanz deutlich voneinander unterscheiden.

Im Zentrum der Beschäftigung mit „Krieg und Frieden in der tschechischen Kinder- und Jugendliteratur“, feinfühlig analysiert von Jana Mikota (Universität Siegen) und Tamara Bučková (Universität Prag) , stand zunächst Věra Sládkovás Malá muž y velká žena aneb Vlak dětství a naděje (zzgl. Verfilmung 1985) über die Aussiedlung der tschechischen Bevölkerung nach dem Münchener Abkommen, Literatur über von Nicholas Winton organisierte Kindertransporte nach Großbritannien (Petr Sís’ Nicky & Věra), Ilse Webers Wann wohl das Leid ein Ende hat (und zahlreiche weitere tief  bewegende Texte und Bilder aus Theresienstadt nebst Hans Krásas Kinderoper Brundibar). Besonderes Augenmerk lag auf Petr Ginz, Deník mého bratra (2004; Prager Tagebuch 1941–1942), die Aufzeichnungen eines nach Theresienstadt und später nach Auschwitz deportierten und dort ermordeten Buben. Moderne Bücher über das Ghetto (z.B. Annika Tetzners Die rote Masche. Ein Shoabuch für Kinder & Erwachsene oder Mirjam Presslers Ein Buch für Hanna) rundeten die Präsentation ab, die zeigte, dass Flucht und Erinnerung wichtige Themen in tschechischer Originalliteratur und in Übersetzungen aus der deutschsprachigen KJL sind. Einen Sonderfall stellt Kateřina Tučkovás Vyhnání Gerty Schnirch (2009; Gerta. Das deutsche Mädchen) dar, worin die Sichtweise der Deutschen in der damaligen Tschechoslowakei während der Besatzung durch die Nationalsozialisten und der Vertreibung im Zuge der Beneš-Dekrete beleuchtet wird. (Zerstörte oder unerwünschte) Freundschaften zwischen tschechischen und deutschen Kindern stehen in mehreren Romanen im Zentrum, u.a. in Josef Holubs Der rote Nepomuk. Als Ausblick diente Literatur zu Flucht und neuer Heimat heute.

Beate Sommerfeld (Universität Posen) legte in „Kriegsdarstellungen in der neueren polnischen Kinder- und Jugendliteratur“ ihren Fokus auf Wojny dorosłych – historie dzieci (Kriege der Erwachsenen – Geschichten der Kinder), Tatsachenliteratur („literatura faktu“) des Warschauer Verlagshauses „Literatura“ und des „Museums des Warschauer Aufstands“ mit vielen instruktiven Beispielen aus den 2010er-Jahren. Sie zeigte die Vermittlung patriotischer Werte auf und widmete sich der Analyse von eindrucksvollen Illustrationen. Weiters präsentierte sie Kinderbücher mit alternativen Vergangenheitsnarrativen, die etwas etablieren helfen, das Beate Sommerfeld als „Gegengedächtnisse“ bezeichnet – z.B. Joanna Fabickas Rutka mit dem Handlungsort Łódź oder Mirabelka von Cezary Harasimowicz (2018), worin die ermordeten Jüdinnen und Juden jeweils als Gespenster wiederkehren. Dazu kommen Tagebücher aus dem Warschauer Ghetto, u.a.  Marcin Szczygielskis Arka czasu (2013; Flügel aus Papier – mit vielen phantastischen und eskapistischen Elementen): Phantastisches Erzählen hat Gegengedächtnisse etabliert; Illustrationen unterstützen den Nachvollzug der komplexen Inhalte. Das kollektive Gedächtnis und die offizielle Erinnerungspolitik sind in neueren Kinderbüchern deutlich im Wandel.

Nina Frieß widmete sich in „Der ‚Große Vaterländische Krieg‘ in der russischen Kinder- und Jugendliteratur“ neben dem Zweiten Weltkrieg Kriegen vor dem 20. Jh., dem Ersten Weltkrieg, dem Bürgerkrieg, dem Kalten Krieg, Afghanistan, Tschetschenien und der Ukraine und zeigte die Unterschiede zwischen dem offiziellen Narrativ (Helden stehen vor und über Opfern) und dessen Alternativen auf. Überraschend am schulischen Curriculum des Jahres 2016 ist die freie Lektürewahl, bemerkenswert das vergleichsweise geringe Interesse der Staatsführung an Literatur, die bevorzugt einschlägige Filme (etwa Soldatik, 2018) finanziert. Alternativ ist Aleksandra Litvinas und Ania Desnitckajas Istorija staroj kvartiry (2017; In einem alten Haus in Moskau), ein facettenreiches Bilder- und Wimmelbuch, aber auch Lexikon, das am Beispiel ein und desselben Hauses in 13 Episoden Geschichtsunterricht über das Russland des 20. Jahrhunderts aus Kinderperspektive bietet.

Schließlich behandelte Carola Pohlmann (Staatsbibliothek zu Berlin) den Ukrainekrieg in der Kinderliteratur. Dabei stellte sie wichtige, facettenreiche, kreative und v.a. nachhaltig wirksame Förder- und Unterstützungsprojekte zur Integration geflüchteter Kinder und Jugendlicher vor. Die Initiativen reichen vom Spracherwerb bis hin zu eindrucksvollen Charity-Maßnahmen für die Binnenvertriebenen. Abgedeckt sind Schulbücher ebenso wie Kinder- und Jugendbücher. Carola Pohlmann demonstrierte eingängig die integrative und heilende Kraft von Literatur in schwierigen Zeiten – weit über den Aspekt der Evasion hinaus. Besonders aber lud sie alle zum Mitmachen ein – in einer Zeit, in der das Miteinander wichtiger ist denn je.

Das nächste „Kinderliterarische Kolloquium“ ist für den 12. und 13. Mai 2023 am ZOIS Berlin in hybrider Form zum Thema „Bilderbuch“ geplant. Informationen dazu werden folgen. Wir sind gespannt, bedanken uns für die Kooperation und freuen uns auf weitere anregende Einblicke!

Kontakt: klk@slavistik.uni-halle.de