CFP: Wir – Ihr – Sie

23.11.2023

Kollektive Akteure der deutschsprachigen Literatur für und über Jugendliche (18. Jh. bis zur Gegenwart)

Mit der "Emanzipation des Individuums" (E. E. Noth 1933/2001) in der Literatur seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde auch die Jugend als eigenständige Lebensphase und Thema der Literatur neu entdeckt und mit ihr die Geschichte des Bildungs- und Entwicklungsromans weitergeschrieben. In dieser Zeit ist auch ein Höhepunkt des historischen Adoleszenzromans zu verzeichnen.

Wie aber hängt das emanzipierte Individuum mit der Neuentdeckung der Jugend zusammen? Ist die Literaturgeschichte der Jugend eine Literaturgeschichte des Individuums und der individuellen Psyche? Welche Rolle spielen dann Figuren des Kollektiven in Texten, die sich dezidiert mit Jugendlichkeit auseinandersetzen? In welchen Konstellationen und Konfigurationen finden sich Kollektive wie Jugendgruppen und Banden in der Allgemeinliteratur und in der Kinder- und Jugendliteratur? Wie werden sie erzählt, wie sind ihre Funktionen in der Handlung und deren Entwicklung? Eignen sich bestimmte literarische Gattungen und Genres besonders für die Darstellung von Kollektiven? Sind literaturhistorische Konjunkturen auszumachen? Wie können hier zeitgenössische Diskurse oder spätere Theorien und Theoreme aus Bereichen wie der Soziologie, Psychologie, Narratologie zur Diskussion dieser literarischen Figuren und Figurationen des Kollektiven herangezogen werden?

Ausgehend von der Beobachtung, dass im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vermehrt kollektive Figuren und Akteure in der Literatur für Kinder und Jugendliche auftreten (Steinlein 1999), soll der Workshop die Geschichte, Funktionen und Potenziale des Kollektivs anhand exemplarischer Beispiele vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart untersuchen.

Folgende Themenkomplexe sind ein erstes Orientierungsangebot für Vorträge im Rahmen des Workshops:

Ich/Wir - Möglichkeiten der Erzählung
Als beliebtes Motiv der KJL bieten die Gruppe, die Bande, die Clique die Möglichkeit eines Typenpanoramas von Charakteren. Dies bedeutet jedoch selten den Verzicht auf eine Hauptfigur. Vielmehr wird das Kollektiv oft zum Hintergrund und Kontext einer individuellen Entwicklung und einer individuellen Ich-Erzählung. Spricht jedoch stets ein Ich oder eine nullfokalisierte Erzählstimme für die Gruppe? Welche Möglichkeiten gibt es für ein Wir in der Allgemeinliteratur und der KJL? Und was verändert sich, wenn das Wir ein jugendliches ist? Oder sind literarische Kollektive per se jugendlich?

Homogen/Heterogen – Typologien und Funktionen der Gruppe
Als heterogenes Kollektiv fungiert die Gruppe in den Texten oft entweder als Abbild oder aber als Korrektiv der bestehenden Gesellschaft – je nachdem, ob es dem Text um     Ordnungsstabilisierung oder Gesellschaftskritik geht. So ist nicht nur das Problem der Darstellbarkeit einer Ganzheit im Modus eines überfordernden panoramatischen Blicks zugunsten der Exemplarität gelöst. Auch Kategorien wie ökonomische und soziale Klasse, Geschlecht, nationale und ethnische Zugehörigkeit werden darüber ausgehandelt. Kollektive eignen sich besonders gut, so wäre einer der vorläufigen Thesen, für die Darstellung und Aushandlung struktureller Probleme. Vor diesem Hintergrund wäre die Literatur des Kollektivs abseits einer an Introspektion und individueller Psyche interessierten Literatur zu suchen.

Beständig/Temporär – Dauer des Kollektivs
Jugendliche Banden und Cliquen sind soziale Gebilde, die zeitlich den Prozess des Heranwachsens und diverser Initiationen ins Leben der Erwachsenen begleiten. Doch wie sind Entwicklungsprozesse in Gruppen denk- und darstellbar? Während individuelle Figuren oft narrativ über längere Zeitperioden begleitet werden, lässt sich beobachten, dass Gruppengeschichten meist über geringe erzählte Zeit verfügen. Auf den ersten Blick scheint in den vorliegenden Texten die einzige Entwicklung, der Gruppen unterliegen, der Zerfall zu sein. Die Auflösung der Jugendbande und Clique ist oft gar die Bedingung für die gelungene Selbstfindung der individualisierten Figur und deren Übertritt in die bürgerliche Gesellschaft der Erwachsenen. Als Ersatzfamilien auf Zeit sind Kollektive oft Platzhalter für die fehlende Fürsorge durch Eltern und Staat. 

Gruppenpolitik
Gerade vor dem Hintergrund von Krieg, politischen, ökonomischen und ökologischen Katastrophen setzt die Literatur Gruppenbildungen als Gegenpunkt zu zerrütteten Gesellschaften. Denn Kollektive bieten sichere Räume für Jugendliche, für die Entstehung widerständiger Subkulturen sowie Räume für Grenzüberschreitungen und Regelverstöße. Dass Jugendbanden und -gruppen sich aus soziologischer und literaturhistorischer Perspektive oft im Abseits einer Gesellschaft der Erwachsenen und des Mainstreams sehen, übersetzt sich jedoch nicht in Anarchie oder Chaos. Ganz im Gegenteil weisen Gruppen innere Hierarchien und Machtdynamiken, Regeln, Verhaltenscodices und Kleidungsetikette auf, die sie für das Außen erst erkennbar machen. Kollektive figurieren in der Literatur als subkulturelle, antiautoritäre Einheiten einerseits – sie können Widerstand leisten und Kritik üben, gar eine politische Opposition bilden. Andererseits können sie aber auch einen Verweis auf die große, anonyme Masse sein und zum Mitläufertum agitieren.

Ausgehend von diesen Beobachtungen und vorläufigen Fragestellungen soll der Workshop eine erste Möglichkeit für Diskussion und Erkundungen des Kollektiven in der Literatur über und für Kinder und Jugendliche von 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart bieten.

Erwartet werden 30-minütige Vorträge, auf die eine 15-minütige Diskussion folgt.

Bitte senden Sie bis zum 3.12.2023 kurze Abstracts (300 Wörter) mit Themenvorschlägen sowie eine kurze Biobibliographie an dariya.manova@univie.ac.at.

Der Workshop findet vom 20.3. bis 22.3.2024 in Wien statt.

 

(Quelle: Aussendung & H-Germanistik)