Termin: 5. und 6. März 2026
Ort: Universität Potsdam
„Wir sind laut, wir sind wütend, und wir lassen uns nicht mehr unterdrücken. Wir wollen nie mehr leise sein.“, schreibt Betiel Berhe in ihrem 2023 erschienen Buch Nie mehr leise, in dem sie ausgehend von ihrer eigenen Biografie die Verbindung von Rassismus und Klassismus aufzeigt. Sie plädiert, unterschiedliche Stimmen der verschiedenen Communities zu vereinen, um gemeinsam für eine plurale und gerechte Gesellschaft einzutreten. Ihre Forderungen betreffen letztlich auch die Kinder- und Jugendliteratur, ohne dass sie diese explizit erwähnt. Denn auch hier sollten die verschiedenen Perspektiven und Stimmen der Migrationsgesellschaft in all ihren (überkreuzenden) Diversitäten repräsentiert und wertgeschätzt werden. Migration, Flucht und das Verlassen der vertrauten Umgebung sind keine neuen Themen der gegenwärtigen Kinder- und Jugendliteratur, sondern blicken im (west)deutschsprachigen Raum auf eine lange Geschichte zurück. Der Begriff des Postmigrantischen, der seit einigen Jahren in unterschiedlichen Fachdisziplinen diskutiert und der hier als Analysekategorie, Perspektive oder auch Lesart verstanden wird, findet hingegen erst langsam seinen Weg in den kinder- und jugendliterarischen Forschungsdiskurs (für erste konzeptionelle Überlegungen s. Hodaie 2024). Er zielt u.a. darauf, „das Phänomen der Migration neu zu erzählen und zu interpretieren und Migrationserfahrungen insofern zu normalisieren, als diese von ihrer im öffentlichen Diskurs vorhandenen Konnotation des Ausnahmezustandes gelöst werden“ (Hofmann/Hodaie 2024, S. 3)
Schaut man sich die Kinder- und Jugendliteratur nach 1945 an, so wurde Migration vor allem im Kontext der sog. problemorientierten Kinder- und Jugendliteratur verhandelt (vgl. u. a. Gina Weinkauff 2006). Der spätere Fokus auf die vergleichende Erkundung des (kulturell) ‘Fremden’ und ‘Eigenen’ war zwar von der Intention der Toleranz und des Verstehens geprägt, löste sich jedoch nicht vom binär strukturierten Denken eines „natio-ethno-kulturellen Wirs“ auf der einen Seite und der „‘Migrationsanderen‘“ auf der anderen Seite (vgl. zu den Begrifflichkeiten Mecheril 2010). Insbesondere Heidi Rösch machte deutlich, dass die sog. interkulturelle Kinder- und Jugendliteratur zudem tradierte und rassistische Stereotypen und Denkmuster reproduzieren und lediglich die Perspektive der Dominanzkultur repräsentieren kann (vgl. Rösch 2006, 2013). Postmigrantisch perspektivierte Literatur unterscheidet sich hingegen grundlegend von ästhetischen Medien, die „hegemoniale Präsentationslogiken affirmieren” (Hofmann/Hodaie 2024, S. 9): Sie dekonstruiert dominanzgesellschaftlich-hegemoniales Wissen und macht mit Blick auf Migration und verwandte Themenfelder andere Lesarten und Repräsentationsformen denk- und sichtbar. Sie macht auf Leerstellen und binäre Muster im öffentlichen Migrationsnarrativ aufmerksam und vervollständigt oder revidiert diese, indem sie gesellschaftliche Verhältnisse auch in Anlehnung an postkoloniale Theorien kontrapunktisch liest und Zusammenhänge neuerzählt. (ebd.)
Es wäre zu erwarten oder auch zu erhoffen, dass auch in der Kinder- und Jugendliteratur vermehrt von Begegnungen und Beziehungen in einer pluralen und radikal diversen Gesellschaft erzählt wird, in der Mehrfachzugehörigkeiten und Mehrsprachigkeiten der Regelfall sind und die Trennung zwischen dem natio-ethno-kulturellen Wir und den ‘Migrationsanderen‘ aufgelöst wird. Nazli Hodaie (2024) beobachtet dementsprechend, dass die binäre Ordnung sich “immer mehr zugunsten einer Perspektive, die mit Blick auf Produktion sowie Rezeption von Kinder- und Jugendliteratur die Pluralität der deutschen Migrationsgesellschaft betont und die Vielfältigkeit migrationsgesellschaftlicher Lebensentwürfe in kinder- und jugendliterarischen Artefakten auch abgebildet wissen will” (S. 156), verschiebt.
Auf Basis dieser Prämissen stellen sich für die geplante Tagung die folgenden Fragen zur Diskussion:
- Gibt es überhaupt eine Kinder- und Jugendliteratur die die postmigrantische Perspektive spiegelt und Migration(sgeschichte) neu erzählt (gerade auch in Verbindung mit Dimensionen wie class und gender)?
- Durch welche Merkmale und Besonderheiten auf der ästhetischen, narratologischen und thematischen Ebene zeichnet sich eine postmigrantisch perspektivierte Kinder- und Jugendliteratur aus?
- Inwiefern bestehen Gemeinsamkeiten oder auch Abgrenzungen zum Interkulturalitätsparadigma bzw. zur sog. interkulturellen Kinder- und Jugendliteratur?
- Des Weiteren ist auch danach zu fragen, inwiefern als postmigrantisch zu bezeichnende Kinder- und Jugendliteratur intersektionale Verknüpfungen von Differenzkategorien und damit auch multiple Diskriminierungsformen erzählt und in welchem Verhältnis das Postmigrantische zu anderen Positionierungen wie Jüdischsein, Schwarzsein, queer sein, etc. steht.
Als Ausgangspunkt für die Diskussion kann kritisch festgestellt werden, dass „nicht jedes kinder- und jugendliterarische Artefakt, das sich mit globalen oder migrations- bzw. fluchtbezogenen Themenbereichen” (Hodaie 2024, S. 166) befasst, auch als postmigrantisch (perspektiviert) zu bezeichnen ist.
Eingereicht werden können Beitragsvorschläge zu den folgenden Schwerpunkten und darüber hinaus:
- Konzeptionelle und definitorische Überlegungen zu einer als postmigrantisch (perspektiviert) zu bezeichnenden Kinder- und Jugendliteratur,
- (Historische) Entwicklungslinien der Verhandlung von Migration(sgeschichte) und Einwanderung sowie dem Leben in Migrationsgesellschaften in der Kinder- und Jugendliteratur seit den 1960er Jahren bis heute, inklusive einer Relektüre früherer Texte,
- Theoretische Überlegungen zur Entwicklung und Rolle von Autor*innenschaft bzw. zur Relevanz ‚eigener‘ Migrationsgeschichte oder Erfahrungen als Migrantisierte*r,
- Literaturwissenschaftliche Analysen einzelner Texte (Prosa, Lyrik, Drama),
- Vorschläge und Überlegungen zur Implementierung (einzelner Texte) in den Literaturunterricht: Welche Texte eignen sich (begründet) für den Unterricht? Was sollte bei der Didaktisierung beachtet werden?
Angebote für einen Beitrag erbitten die Veranstalterinnen mit einer knappen Skizze von ca. 300 Wörtern sowie einer kurzen biografischen Skizze bis zum 15.08.2025; danach erfolgt eine Rückmeldung bis 22.08.2025 zu möglichen Beiträgen. Bitte richten Sie Ihre Vorschläge an:
Dr. Martina Kofer: martina.kofer@uni-potsdam.de und
Dr. Jana Mikota: mikota@germanistik.uni-siegen.de
Die Veranstalterinnen bemühen sich darum, eine Finanzierung der Reisekosten zu realisieren. Eine anschließende Publikation der Tagungsbeiträge und Diskussionen ist geplant.
Veranstalterinnen: Dr. Martina Kofer / Dr. Jana Mikota
Literatur:
- Berhe, Betiel (2023): Nie mehr leise! Die neue migrantische Mittelschicht. Berlin: Aufbau.
- Hodaie, Nazli (2024): Postmigrantische Kinder- und Jugendliteratur. In: Dies./Hofmann, Michael (Hrsg.): Postmigrantische Literatur. Grundlagen, Analysen, Positionen. Berlin: Springer, S. 155-176.
- Hodaie, Nazli/Hofmann, Michael (2024): Literatur und Postmigration. Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Postmigrantische Literatur. Grundlagen, Analysen, Positionen. Berlin: Springer, S. 1-13.
- Mecheril, Paul (2010): Migrationspädagogik. Hinführung zu einer Perspektive. In: Paul Mecheril et al.: Migrationspädagogik. Weinheim/Basel: Beltz, S. 7-22.
- Rösch, Heidi (2013): Interkulturelle Literaturdidaktik im Spannungsfeld von Differenz und Dominanz, Diversität und Hybridität. In: Petra Josting/Caroline Roeder (Hrsg.): “Das ist bestimmt was Kulturelles”. Eigenes und Fremdes am Beispiel von Kinder- und Jugendmedien (= kjl&m. Extra, Band 13), München, kopaed, S. 21-32.
- Rösch, Heidi (2006): Was ist interkulturell wertvolle Kinder- und Jugendliteratur? In: Beiträge Jugendliteratur und Medien, 6 (2006) 2, S. 94-103.
- Weinkauff, Gina (2006): Ent-Fernungen. Fremdwahrnehmung und Kulturtransfer in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur seit 1945. Band 1: Fremdwahrnehmung. Zur Thematisierung kultureller Alterität in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur seit 1945. München: iudicium.
(Quelle: Aussendung)