Lektüre zwischen Zugänglichkeit und Ästhetik
An Kinder- und Jugendliteratur werden unterschiedliche Maßstäbe angelegt – sei es beiNominierungen für Literaturpreise oder bei der Auswahl für Unterricht undBibliotheksbestände. Favorisiert man zugängliche Texte, die auch für literarisch unerfahreneLeser*innen wenig Widerstand bieten und sich auf diese Weise zur Leseförderung eignen? Oder ist man auf der Suche nach ästhetisch ambitionierten Werken, die einen Zugewinn an literarischer Bildung versprechen, aber drohen, junge Leser*innen zu überfordern und schließlich auf Abstand zur Literatur zu halten? Die Diskussion verschiedener Maßstäbe –pädagogische versus ästhetische – wurde im Zuge der Haas-Hurrelmann-Kontroverse (Josting 2020, 402) Ende der 1980er-Jahre besonders lebhaft geführt. Der Konflikt ist bis heute immer wieder Thema (zur Debatte auch Jantzen/Josting/Ritter 2018).
Bezogen auf den Literaturunterricht befürchtet Paefgen (1999, 29) den Trend zu einfacherenTexten, weil er letztlich dazu führe, dass Literatur in der Schule zur „wichtigen Nebensache“ degradiert werde. Betrachtet man Befunde empirischer Studien zum Literaturunterricht (etwaPieper 2023; Magirius et al. 2023), lässt sich vermuten, dass Paefgens Befürchtung in der nicht gymnasialen Sekundarstufe I bereits Realität ist – die Literarizität der Gegenstände spielt dort offenbar kaum eine Rolle. Während sich (insbesondere prämierte) KJL schon seit geraumerZeit in Ästhetik und Programm der „Allgemeinliteratur“ annähert (Gansel 2021, 32) und zur ästhetischen Innovation neigt, existiert in manchen Schulen ein „De-facto-Kanon“, der Lektüren favorisiert, die sich „bewährt“ haben (Bertschi-Kaufmann 2022, 35), während beispielsweise„innovative[…] Bild-Text-Erzählungen […] nur zurückhaltenden Widerhall [finden]“ (vgl. Ritter &Ritter 2020, 113). Wenn der Literaturunterricht jedoch keinem Kompensationsauftrag nachkommt, werden Schüler*innen, die außerhalb der Schule kaum mit ästhetisch ambitionierter Literatur in Berührung kommen, womöglich lebenslang von literarisch-ästhetischer Kommunikation ausgeschlossen.
Das Heft verfolgt das Ziel, anhand von didaktisch motivierten Gegenstandsanalysen und empirischen Studien zwischen literarischer Bildung und Leseförderung zu vermitteln. So sollgezeigt werden, dass literarische Texte gerade durch ihre ästhetisch ambitionierten Formensprachen auch literarisch unerfahrene Leser*innen berühren, interessieren und zur weiteren Lektüre motivieren können. Damit wird die Arbeit von Lypp (1984/2025, 159) fortgeführt, die nach Möglichkeiten der Kinderliteratur fragt, „Kinder in die komplexe Welt der Literatur einzuführen und sie mit ihrer Hilfe an die Komplexität der Wirklichkeit heranzuführen“. Ihr Anliegen wird im Heft auf den Bereich der Jugendliteratur ausgedehnt (zur Komplexität literarischer Texte siehe auch Rosebrock 2019).
Erwünscht sind Beiträge aus dem Spektrum der Kinder- und Jugendmedien. Zur Analyse,Diskussion und ggf. auch didaktischen Einordnung bieten sich literarische Texte verschiedener Medialität an,
- die ästhetisch ambitioniert erzählen und dennoch ein hohes Maß an Zugänglichkeit aufweisen,
- deren Einfachheit – z. B. durch „fest auszumachende[…] Regeln“ (Lypp 1984/2025, 111)– literarisch unerfahrenen Leser*innen die Rezeption oder gar den Genuss literarischerFormensprachen ermöglicht,
- deren Multimodalität einerseits Zugänglichkeit und andererseits komplexe Erzählsituationen schafft,
- die in Medienverbünde eingebettet sind und so Zugänglichkeit generieren,
- deren literarische Darstellung schwer zugängliche Themen – etwa die menschlichePsyche – für literarisch unerfahrene Leser*innen erschließbar werden lässt,
- deren Leichte/Einfache Sprache literarische Erfahrungen ermöglicht oder verhindert,
- deren Anschaulichkeit, Fantastik oder (übertragene) Bildlichkeit Zugänge schafft.
Darüber hinaus sind neben empirischen Studien zum Thema auch Beiträge erbeten, die vorstellen, wie Kinder und Jugendliche in besonderen räumlichen/institutionellen Settings (z. B.im Unterricht, gern aber auch außerschulisch in Bibliotheken oder Museen) Zugang zu anspruchsvollen literarischen Werken finden können. Abstracts für Beiträge können bis zum 15.11.2025 an marco.magirius@uni-erfurt.de geschickt werden. Nach erfolgter Zusage sind die Manuskripte zum 01.06.2026 fertig zustellen. Das Heft erscheint im November 2026.
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Marco Magirius (Universität Erfurt)
Sekundärliteratur
- Bertschi-Kaufmann, Andrea: Literarische Bildung: neu im Fokus. Text- und Medienvielfalt im Unterricht der Sekundarstufe I. Hannover 2022
- Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientiertenUnterricht. Berlin 82021
- Jantzen, Christoph/ Petra Josting/ Michael Ritter (Hgg.): Ästhetik – Leserbezug – Wirkung. Ansprüche an Kinder- und Jugendliteratur im Wandel der Zeit. München 2018 (kjl&m 18.extra)
- Josting, Petra: Geschichte der Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur. In: Kurwinkel, Tobias/ Philipp Schmerheim (Hgg.): Handbuch Kinder- und Jugendliteratur. Berlin 2020, 400–404
- Lypp, Maria: Einfachheit als Kategorie der Kinderliteratur (1984). Herausgegeben von Thomas Boyken und Hans-Heino Ewers. Weinheim 2025
- Magirius, Marco/ Daniel Scherf/ Michael Steinmetz: Unterrichtliches Handeln mit Literatur (in derSekundarstufe I) – Didaktische Konzepte und schulische Praxis. In: kjl&m 75 (2023) H. 4, 76–83
- Paefgen, Elisabeth K.: Der Literaturunterricht heute und seine (un)mögliche Zukunft. In: Didaktik Deutsch 4 (1999) H. 7, 24–35
- Pieper, Irene: „Die Perspektive der Geschichte, da müssten wir noch ’n Wort drüber verlieren“: Zur Fachlichkeit des Literaturunterrichts. In: Didaktik Deutsch 28 (2023) H. 54, 3–16
- Ritter, Alexandra/ Michael Ritter: Was soll und was nicht sein darf! Orientierungen von Lehrenden zur Bilderbuchauswahl. In: Schmidt, Frederike/ Kirsten Schindler (Hgg.): Wissen und Überzeugungen von Deutschlehrkräften. Aktuelle Befunde in der deutschdidaktischen Professionsforschung, Frankfurt/ M. 2020, 111–126
- Rosebrock, Cornelia (2019): Leichte Texte. In: Hochstadt, Christiane/ Ralph Olsen (Hgg.): Handbuch Deutschunterricht und Inklusion. Weinheim [u. a.] 2019, 93–110
(Quelle: Aussendung)
